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Lyrikinterpretation: Materialien


Victor Hugo: Préface de Cromwell

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Victor Hugo (1802-1885) Vorrede zum Cromwell (Préface de Cromwell, 1827/1828)

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Um zu zeigen, wie unsinnig die Regel der beiden Einheiten ist, sollte ein letztes, dem Herzen der Kunst selbst entnommenes Argument genügen. Das Vorhandensein nämlich der dritten Einheit, der Einheit der Handlung, die als einzige von allen anerkannt wird, weil sie sich aus einer Tatsache ergibt: Weder das Auge noch der Geist des Menschen ist imstande, gleichzeitig mehr als ein geschlossenes Ganzes zu erfassen; sie setzt für den Zuschauer den "Blickpunkt" des Dramas, und eben dadurch schließt sie die beiden anderen aus. Es kann ebensowenig drei Einheiten geben im Drama wie drei Horizonte in einem Bild. Im übrigen dürfen wir nicht Einheit mit Einfachheit der Handlung verwechseln. Einheit des Ganzen heißt in keiner Weise, daß es keine Nebenhandlungen geben dürfe, auf die sich die Haupthandlung stützt.

Nur müssen diese Teilhandlungen, die dem Ganzen kunstvoll untergeordnet werden, in jedem Moment zur Haupthandlung hinstreben und sich in den verschiedenen Stadien oder vielmehr auf den verschiedenen Ebenen des Dramas um sie scharen. Die Einheit des Ganzen stellt das optische Gesetz des Theaters dar.

"Aber", so werden diejenigen ausrufen, die an den Grenzen des Denkens Wache halten, "große Genies haben sich ihnen doch unterworfen, jenen Regeln, die ihr ablehnt!" - Ja, leider! Was hätten sie nicht schaffen können, wenn man ihnen ihre Freiheit gelassen hätte! Aber sie haben sich wenigstens nicht kampflos von euch fesseln lassen. Lest Pierre Corneille und seht, wie er sich zur Wehr setzt gegen Mairet, [...] d'Aubignac und Scudery, als sie, gleich zu Beginn seiner Laufbahn, wegen seines Wunderwerks Le Cid über ihn herfielen. [...]

Um wieviel Schönes bringen uns die Menschen von Geschmack [...] !

Aber immer noch wird gesagt und wird gewiß noch einige Zeit gesagt werden: "Befolgt die Regeln! Ahmt die Vorbilder nach! - Die Regeln sind es, die die Vorbilder geschaffen haben!" - Halt! Hier gibt es nämlich zwei Arten von Vorbildern: solche, die mit Hilfe der Regeln entstanden sind, und, vor ihnen, diejenigen, nach denen die Regeln aufgestellt wurden. In welcher dieser beiden Klassen soll sich das Genie seinen Platz suchen? Obwohl es immer lästig ist, etwas mit Schulmeistern zu tun zu haben, wäre es nicht tausendmal besser, sie zu belehren, als von ihnen belehrt zu werden? Und dann: nachahmen! Ist der Widerschein soviel wert wie das Licht? Hat der Satellit, der ohne Aufhören seinen immer gleichen Kreis zieht, den Rang des Zentralgestirns, das ihn erzeugt hat? Mit all seiner poetischen Kraft ist Vergil nur Homers Mond.

Und, sagt mir das einmal, wer soll nachgeahmt werden? Die Alten? Wir haben bewiesen, daß ihr Theater mit dem unseren nichts gemein hat. Voltaire übrigens, der sich nichts aus Shakespeare macht, macht sich auch nichts aus den Griechen. Er sagt uns weshalb: "Die Griechen haben Geschehnisse zu zeigen gewagt, die uns um nichts weniger abstoßen. [...] Die Kunst war noch im Kindesalter sowohl zur Zeit des Aischylos wie in London zur Zeit Shakespeares." - Die Modernen? Ah! Nachahmungen nachahmen! Habt Erbarmen!

"Aber", wird man uns nun wieder entgegnen, "so wie ihr die Kunst auffaßt, scheint ihr immer nur an große Dichter zu denken, immer mit Genialität zu rechnen!" - Die Kunst rechnet nicht mit Mittelmäßigkeit. Sie schreibt ihr nichts vor, sie kennt sie nicht, für sie existiert sie nicht. Die Kunst gibt Flügel und keine Krücken. [...]

Haben wir also den Mut, es zu sagen. Die Zeit dafür ist gekommen, und es wäre seltsam, daß die Freiheit - dem Lichte gleich - heute überall einzudringen vermag außer in den Bereich, der von Natur der freieste von allen ist: der des Denkens. Auf! laßt uns die Theorien, die Poetiken und die Systeme in die Enge treiben, den alten Verputz, der die Fassade der Kunst überzog, zerschlagen. Es gibt weder Regeln noch Vorbilder, oder besser: es gibt keine anderen Regeln als die allgemeinen Gesetze der Natur, die für die Kunst in ihrer Gesamtheit gültig sind, und besondere Gesetze, die sich für jedes Werk aus dem ableiten, was den jeweiligen Gegenstand kennzeichnet. Die einen sind ewig, ins Innerste eindringend und beständig; die anderen sind veränderlich, gelten dem Äußeren und nur für einen einzigen Fall. Die ersteren sind das Gebälk, das das Haus aufrecht hält; die zweiten das Gerüst, das der Errichtung dient und für jedes Gebäude neu aufgestellt wird. Kurz, die einen sind das Gebein des Dramas, die anderen sein Gewand. Im übrigen finden wir diese Regeln nicht in den Poetiken. [...] Das Genie, das sich mehr von Ahnungen als von Belehrungen leiten läßt, entnimmt für jedes Werk die ersteren der allgemeinen Ordnung der Dinge und die anderen dem für sich stehenden Ganzen des vorliegenden Stoffes. [...]

Der Dichter - dieses wollen wir immer wieder deutlich machen - darf sich also nur von der Natur, von der Wahrheit und von der Inspiration beraten lassen, welche auch Wahrheit und Natur ist. [...] Besonders möge sich der Dichter davor hüten, einen anderen nachzumachen - wer das auch sei, weder Shakespeare noch Molière, weder Schiller noch Corneille. Wenn der wirklich Begabte fähig wäre, seine eigene Natur in dem Maße aufzugeben und seine persönliche Eigenart derart auszuschalten, daß er sich in einen anderen verwandeln könnte, würde diese Sosias - Rolle ihn völlig wertlos machen. Er wäre der Gott, der sich zum Diener macht. Wir. müssen zu den Urquellen gehen. [...] Weshalb sollte man sich an einen Lehrmeister hängen? sich einem Vorbild aufpfropfen? Und wenn man nur ein Dornbusch oder eine Distel ist, die sich aus dem gleichen Boden ernährt wie die Zeder und die Palme, ist das besser, als eine auf diesen großen Bäumen wachsende Flechte oder ein Rindenpilz zu sein. Der Dornbusch lebt, die Flechte vegetiert. [...]

Und man darf sich hierin nicht dadurch irremachen lassen, daß einige unserer Dichter Großes zu schaffen fähig waren, obwohl sie andere nachahmten; denn sie haben sich zwar den antiken Vorbildern angepaßt, jedoch dabei oft auch die Natur und ihren eigenen Genius sprechen lassen; sie sind zu einem Teil sie selbst geblieben. Ihre Äste klammerten sich an den benachbarten Baum, aber ihre Wurzel steckte tief im Boden der Kunst. Sie waren Efeu, nicht Mistel. Dann sind die Nachahmer niederen Ranges gekommen, die, weil sie weder Wurzeln in der Erde noch Genie im Herzen hatten, sich auf Nachahmung beschränken mußten [...]

Die Natur also! Natur und Wahrheit. - Und um zu zeigen, daß den Befürwortern der neuen Ideen nichts ferner liegt, als die Kunst vernichten zu wollen, sondern daß sie dieser im Gegenteil neue Kraft und ein besseres Fundament zu geben beabsichtigen, werden wir hier versuchen, auf die unüberschreitbare Grenze hinzuweisen, die unserer Meinung nach die Wirklichkeit der Kunst von der natürlichen Wirklichkeit trennt. Sie zu verwechseln, wie es einige noch unerfahrene Anhänger der romantischen Schule tun, beweist Leichtfertigkeit. Die Wahrheit der Kunst, wie es schon öfter gesagt worden ist, kann nicht das gleiche sein wie die absolute Wirklichkeit. Die Kunst kann nicht die Sache selbst liefern. Stellen wir uns einmal einen jener unbesonnenen, für die absolute Natürlichkeit kämpfenden Menschen vor, der der Aufführung eines romantischen Stückes beiwohnt, wie zum Beispiel dem Cid. "Was?" wird er beim ersten Wort sagen, "der Cid spricht in Versen? Es ist nicht natürlich, in Versen zu sprechen." Einen Augenblick später wird er, wenn er konsequent ist, sagen: "Wie? der Cid spricht französisch? [...] Die Natur fordert, daß er seine Sprache spricht, er kann nur spanisch sprechen." [...] Glaubt ihr, daß das alles ist? Nein; noch vor dem zehnten kastilischen Satz wird er aufstehen und fragen, ob der Cid, der da spricht, der wahre Cid in Fleisch und Blut ist. "Was berechtigt diesen Schauspieler, der Pierre oder Jacques heißt, sich Cid zu nennen? Das ist ein Betrug." - Und weshalb sollte er dann nicht auch noch verlangen, daß das Rampenlicht durch die Sonne, und die trügerischen Kulissen durch wirkliche Bäume, wirkliche Häuser ersetzt werden. Denn wenn man einmal diesen Weg einschlägt, hat uns die Logik beim Schopf; man muß immer weiter gehen.

Man muß also, wenn man nicht ins Absurde geraten will, erkennen, daß der Bereich der Kunst und der der Natur sich völlig voneinander unterscheiden. Wenn Natur und Kunst nicht zweierlei wären, würde die eine oder die andere nicht existieren. Die Kunst hat ihren vom Geist bestimmten Teil und außerdem einen irdischen und greifbaren. Ob sie es will oder nicht, ist sie eingespannt zwischen Grammatik und Prosodie, zwischen Vaugelas und Richelet. Auch für ihre eigenwilligsten Schöpfungen muß sie sich gewisser Formen und Möglichkeiten bedienen, muß eine ganze Apparatur in Bewegung setzen. Für das Genie sind dies Instrumente, für den mittelmäßig Begabten Werkzeuge.

Andere, so scheint es uns, haben es schon gesagt: das Drama ist ein Spiegel, in dem sich der Widerschein der Natur zeigt. Wenn dieser Spiegel aber ein gewöhnlicher Spiegel ist, eine ebene, begrenzte Fläche, wird er von den Gegenständen nur ein glanzloses Bild, ohne jede Tiefe, wiedergeben, das getreu ist, aber blaß; man weiß, wie matt Farben und Licht erscheinen bei der einfachen Widerspiegelung. So muß das Drama also ein Hohlspiegel sein, der die Farben nicht abschwächt, sondern im Gegenteil die Strahlen sammelt und verdichtet; der aus einem Schimmer ein Licht, aus Licht eine Flamme macht. Nur dann wird das Drama von der Kunst als das ihre anerkannt werden.

Die Bühne ist ein optischer Mittelpunkt. Alles, was in der Welt, in der Geschichte, im Leben, im Menschen vorhanden ist, all das muß und kann sich hier widerspiegeln, jedoch unter dem Zauberstab der Kunst. Die Kunst durchblättert die Jahrhunderte, durchblättert die Natur, befragt die Chroniken, bemüht sich, die Wirklichkeit der Gegebenheiten wiederzugeben, besonders die der menschlichen Sitten und Verhaltensweisen, welche viel weniger dem Zweifel und Einwänden ausgeliefert ist als die der Ereignisse; sie stellt wieder her, was die Annalenschreiber entstellt haben, füllt Lücken durch Erfindungen, die den Farben der Zeit gerecht werden, bringt das bei ihnen verstreut Erscheinende in Verbindung, deckt zwischen den menschlichen Marionetten das von der Vorsehung gelenkte Spiel der Fäden auf, kleidet alles in eine poetische und zugleich natürliche Form und gibt ihm jene wahre und unmittelbare Lebendigkeit, die Illusion erzeugt, jenen reizvollen Anschein von Wirklichkeit, der den Zuschauer gefangennimmt und vor ihm den Dichter, denn der Dichter ist ohne Falsch. So ist das Ziel der Kunst ein fast göttliches: wiederzuerwecken, wenn sie Geschichte schreibt; zu erschaffen, wenn sie dichtet. [...] Wie großartig, wie schön ist es, ein sich so breit entfaltendes Drama zu sehen, in dem die Kunst kraftvoll die Natur aufdeckt. [...]

Wenn der Dichter für ein Werk solcher Art seine Wahl trifft unter den Dingen (was er tun muß), ist es begreiflich, daß diese nicht dem Schönen gelten wird, sondern dem Charakteristischen. Es handelt sich hierbei nicht darum, das, was man heute Lokalkolorit nennt, anzubringen, also einer in ihrer Gesamtheit völlig unechten, dem Üblichen entsprechenden Darstellung nachträglich hier und da ein paar grelle Tupfen aufzusetzen. Das Lokalkolorit darf seinen Platz nicht auf der Oberfläche des Dramas haben, sondern tief im Herzen des Werkes, von wo aus es ganz von allein, auf natürliche Art nach außen dringt, gleichmäßig und, wenn man so sagen darf, bis in alle Winkel des Dramas, wie der Saft, der aus der Wurzel bis ins letzte Blatt des Baumes aufsteigt. Das Drama muß ganz und gar durchtränkt sein von der Farbe der jeweiligen Zeit; sie muß gleichsam die Luft erfüllen, so daß man nur beim Herein und Hinausgehen merkt, daß man sich in einem anderen Jahrhundert und einer anderen Umwelt befindet. Es bedarf einigen Wissens und einiger Mühe, wenn das erreicht werden soll; um so besser. Es ist gut, daß der Zugang zur Kunst durch Dornen erschwert wird, vor denen alle zurückschrecken, deren Wille nicht stark genug ist. Und es ist auch dieses Wissen, das, von glühender Inspiration unterstützt, das Drama vor einem Übel bewahrt, das es tötet: vor der Plattheit. Plattheit kennzeichnet die Dichter, deren Blickfeld eng und deren Atem kurz ist. In der Perspektive der Bühne dürfen von jeder Gestalt nur die prägnantesten, ihr eigentümlichsten und eindeutigsten Züge sichtbar werden. Sogar das Gemeine und Alltägliche muß Gewicht bekommen. Nichts darf sich selbst überlassen bleiben. Der wahre Dichter ist in seinem Werke, wie Gott, überall gleichzeitig gegenwärtig. Genie ist dem Prägstempel vergleichbar, der den Kupfermünzen ebenso wie den Golddukaten das Bild des Königs aufpreßt.

Wir scheuen uns nicht - und dieses könnte für vorurteilslose Menschen ein weiterer Beweis dafür sein, wie wenig wir der Kunst Schaden zufügen wollen -, wir scheuen uns nicht, den Vers für eines der wirksamsten Mittel zu halten, um das Drama vor dem Unheil zu bewahren, das wir soeben genannt haben; für einen der festesten Dämme gegen den Einbruch der Plattheit, die wie die Idee der Demokratie immer die Gemüter überflutet. Und hier möge die junge Literatur, die schon so reich an Männern und Werken ist, uns erlauben, ihr einen Irrtum aufzuzeigen, dem sie, so scheint es uns, unterlegen ist; einen Irrtum übrigens, der angesichts der unvorstellbaren Verfehlungen der alten Schule nur zu verständlich ist. Das neue Jahrhundert ist in dem Wachstumsstadium, in dem eine Haltung leicht wieder korrigiert werden kann.

In den vergangenen Jahrzehnten brachte der alte klassische Stamm ein wohl fast letztes Geäst hervor oder besser, etwas wie jene Auswüchse, jene Tumoren, wie sie sich im hohen Alter entwickeln und weit mehr ein Zeichen des Verfalls sind als ein Beweis für Lebenskraft; es entstand eine seltsame Art von dramatischer Dichtung. Der Lehrmeister und stützende Stamm dieser Schule war, so scheint es uns, der Dichter, der das achtzehnte Jahrhundert in das neunzehnte hinüberführt, der Freund der Beschreibung und der Periphrase, [...] Delille [...].

Diese neue Muse verachtet nicht, wie die wahre französische Klassik, die alltäglichen und niedrigen Dinge des Lebens, sie sucht sie im Gegenteil auf und häuft sie gierig an. Das Groteske, das von der Tragödie der Zeit Ludwigs XIV. als schlechte Gesellschaft gemieden wurde, wird von ihr nicht in Ruhe gelassen. Es muß beschrieben werden! und das heißt geadelt. [...] Diese Muse ist, wie man sieht, höchst zimperlich. Da sie an die schmeichelnden Töne der Periphrase gewöhnt ist, verabscheut sie die normalen Namen der Dinge, die sie hier und da einmal verletzen könnten. Es ist unter ihrer Würde, natürlich zu reden. [...] Kurz, nichts ist so platt wie diese abgenützte Eleganz und Vornehmheit. Kein neuer Fund, keine Phantasie, keine Entdeckungen in dieser Sprache. Was man von jeher kennt: Rhetorik, Schwulst, Gemeinplätze, Stilblüten aus Schulaufsätzen, die Poesie lateinischer Verse. Fremde Gedanken, eingekleidet in Bilder aus dem Kramladen. [...] Wenn diese Dichter auch nicht in der Bibel blättern, so haben sie doch auch ihre dicken Bücher: das Reimlexikon. Das ist die Quelle ihrer Dichtung. [...]

Natur und Wahrheit kommen hierbei begreiflicherweise schlecht weg. Es wäre ein großer Zufall, wenn Reste davon in dieser Flut von unechter Kunst, unechtem Stil, unechter Poesie noch mittreiben könnten. Und das hat den Irrtum einiger unserer vortrefflichen Neuerer verursacht. In ihrer Bestürzung über die Starre, die künstliche Aufmachung, das pomposo dieser sich als Dichtung ausgebenden Dramenproduktion glaubten sie, daß die Grundformen unserer poetischen Sprache mit dem Natürlichen und Wahren unvereinbar seien. Der Alexandriner hatte sie so oft verstimmt, daß sie ihn - sozusagen ohne ihn zu Wort kommen zu lassen - verurteilt haben, und sie kamen, vielleicht etwas übereilt, zu der Überzeugung, daß das Drama in Prosa geschrieben werden müsse.

Sie haben sich getäuscht. Wenn in der Tat an der Sprache und der Durchführung gewisser französischer Tragödien so vieles unecht wirkt, dürfen dafür nicht die Verse verantwortlich gemacht werden, sondern die Versmacher. Die Verurteilung darf nicht der verwendeten Form gelten, sondern denen, die diese Form verwendet haben. [...]

Der Vers ist die sichtbare Form des Gedankens. Aus ebendiesem Grunde ist er für das szenische Sehen besonders geeignet. Wenn er in einer bestimmten Weise verfaßt wird, überträgt er seine Prägnanz auf Dinge, die ohne ihn unbedeutend und alltäglich erscheinen würden. Er festigt und verfeinert das Sprachgewebe. Er ist der Knoten, der den Lauf des Fadens zum Stehen bringt. Er ist der Gürtel, der das Gewand hält und ihm alle seine Falten gibt. Was könnten also Natur und Wahrheit dadurch verlieren, daß sie in den Vers eingehen? Und unseren Prosafreunden selbst stellen wir die Frage: was verlieren sie durch Molières Versdichtung? Ist der Wein - wenn man uns eine weitere wenig originelle Bemerkung erlauben will - kein Wein mehr, weil er in der Flasche ist?

Wenn wir sagen dürften, welcher Art nach unserer Meinung die Sprache des Dramas sein könnte, so würden wir uns einen ungezwungenen, freimütigen, redlichen Vers wünschen, der alles ohne falsche Scham zu sagen wagt, alles ohne Künstelei ausdrückt, der in ganz natürlicher Weise vom Komischen zum Tragischen überwechselt, vom Sublimen zum Grotesken; der abwechselnd nüchtern und poetisch, kunstvoll und inspiriert zugleich ist, gedankenreich und überraschend, weitschauend und wahr; einen Vers, der zur rechten Zeit die Zäsur zu brechen und zu verschieben weiß, um die Eintönigkeit des Alexandriners zu verschleiern; der ein größerer Freund des Enjambements ist, das ihn verlängert, als der Umstellung der Wörter, die ihm die Klarheit nimmt; der dem Reim treu ist, diesem königlichen Sklaven, diesem Juwel unserer Dichtung und Erzeuger unserer Verskunst; einen Vers von unerschöpflicher Wandlungsfähigkeit, dessen Erlesenheit und Gestaltung unfaßbare Geheimnisse bleiben. [...]

Es ist gewiß, daß die zwangsläufig viel ängstlichere Prosa, die dem Drama keinerlei lyrische und epische Poesie vermitteln kann und sich auf Dialoge und Tatsachen beschränken muß, weit entfernt davon ist, über solche Möglichkeiten [des Verses] zu verfügen. Ihre Flügel sind sehr viel schmaler. Außerdem ist sie viel leichter zu handhaben; mittelmäßige Begabungen fühlen sich bei ihr wohl, und trotz einigen vortrefflichen Werken, von denen mehrere in den letzten Jahren erschienen sind, würde es in dieser Kunst sehr bald eine Fülle von Miß- und Fehlgeburten geben. [...] Im übrigen ist die Frage, ob das Drama in Prosa geschrieben werden soll, von untergeordneter Bedeutung. Der Rang eines Werkes darf ihm nicht auf Grund seiner Form, sondern auf Grund seines wahren Wertes zuerkannt werden. Für Fragen dieser Art gibt es nur eine Lösung. In der Kunst gibt es nur ein Gewicht, das die Waagschale beschwert: Genie.

Außerdem ist die erste, unumgängliche Bedingung, die der Dramenverfasser - ob er in Prosa oder - in Versen schreibt erfüllen muß, die Beherrschung der Sprache. Nicht jene oberflächliche Sprachbeherrschung, die eine Stärke oder ein Übel der "beschreibenden Schule" ist, [...] sondern die ins Innerste, Tiefste gehende, bewußte Meisterung, die sich vollgesogen hat mit dem Geist der Sprache, die ihren Wurzeln nachgegangen ist, ihre Etymologien ausgegraben hat; die sich immer frei fühlt, weil sie ihrer selbst sicher ist und immer mit der Logik der Sprache übereinstimmt. [...] Sie kann sich kühn vorwagen, sich ihren Stil schaffen, erfinden; sie hat das Recht dazu. Denn was auch gewisse Leute gesagt haben mögen, unüberlegt, ohne über das, was sie sagten, nachzudenken - zu denen übrigens derjenige gehört, der diese Zeilen schreibt -: die französische Sprache ist nicht festgelegt und wird es nie sein. Eine Sprache läßt sich nicht festlegen. Der menschliche Geist geht immer seinen Weg weiter oder, wenn man so sagen will, ist immer in Bewegung und die Sprache mit ihm. [...] Die Sprachen sind wie das Meer in ständiger Unruhe. In gewissen Zeiten ziehen sie sich von einem Ufer der Welt des Geistes zurück und dringen zu einem anderen vor. Alles, was ihre Flut nicht mehr bespült, verdorrt und läßt den Boden brach. So kommt es dazu, daß Gedanken erlöschen, Wörter verschwinden. [...] Vergeblich rufen unsere literarischen Josuas der Sprache zu, sie solle stillstehen. Die Sprachen - wie auch die Sonne - stehen nicht mehr still. An dem Tage, an dem sie zum Stehen gebracht werden, sterben sie. So erklärt es sich, daß das Französische einer gewissen [literarischen] Schule unserer Zeit eine tote Sprache ist. Dieses ist etwa das, [...] was der Verfasser dieser Schrift heute über das Drama denkt. Übrigens will er keineswegs seinen dramatischen Versuch [Cromwell] als ein Ergebnis dieser Gedanken hinstellen, die ganz im Gegenteil - um es unbefangen auszusprechen - vielleicht ihrerseits Erkenntnisse sind, zu denen er beim Schreiben des Dramas gekommen ist. [...] Dieses Eingeständnis wird gewiß manchen dazu veranlassen, das zu wiederholen, was ein deutscher Kritiker dem Verfasser vorgeworfen hat: er habe eine Poetik für sein poetisches Werk geschrieben. Was tut's! Erstens hatte er weit mehr die Absicht, Poetiken zu bekämpfen als zu verfassen. Und weiter: wäre es nicht immer richtiger, Poetiken zu schreiben, die sich auf Dichtungen stützen, als ein Werk, das sich nach einer Poetik richtet? Aber nein! nochmals nein! er hat weder die Fähigkeit noch den Wunsch, Systeme zu errichten. [...] Es wäre also eine unnütze und seine Kräfte übersteigende Mühe gewesen. Wofür er sich im Gegenteil eingesetzt hat, ist die Freiheit der Kunst gegen die Tyrannis der Systeme, der Gesetzbücher und der Regeln. Er hat die Gewohnheit, sich auf gut Glück von dem leiten zu lassen, was er für seine Eingebung hält, und die Gußform ebensooft zu wechseln wie sein Vorgehen beim Aufbau. [...]


Es ist ohne weiteres klar, daß dieses Drama in seiner vorliegenden Form die Möglichkeiten unserer Bühne überschreiten würde. Es ist zu lang. [...] Sollte es jedoch dazu kommen, daß die Theaterkritik seine Aufführung gestattete, könnte der Verfasser [...] Auszüge des Dramas zu einem Stück umarbeiten, das es wagen könnte, sich auf der Bühne zu zeigen - und ausgepfiffen würde. Was die Zukunft auch bringen mag, so glaubt der Verfasser die kleine Zahl von Personen, die Lust hätten, ein solches Schauspiel zu sehen, darauf hinweisen zu müssen, daß ein aus Cromwell zusammengesetztes Stück trotzdem nicht weniger als die gesamte Vorstellungsdauer in Anspruch nehmen würde. Es ist kaum möglich, für die Einführung eines romantischen Theaters eine andere Lösung zu finden. Und wahrlich, wenn man etwas anderes haben will als jene Art von Tragödien, in denen eine oder zwei Gestalten - unwirkliche Verkörperungen einer metaphysischen Idee - feierlich vor einem Hintergrund einherwandeln, der keine Tiefen verbirgt und auf dem sich, kaum sichtbar, die Häupter einiger Begleitpersonen zeigen die als farbloser Abklatsch der Helden die Aufgabe haben, die leeren Momente einer einfachen, einförmigen und auf einen Ton gestimmten Handlung auszufüllen, wenn es jemanden gibt, den das verdrießt, dann wird er es nicht zuviel finden, daß eine ganze Abendvorstellung dafür verwendet wird, in einiger Breite einen hervorragenden Menschen mit allen seinen Zügen und eine krisenreiche Zeit nachzuzeichnen. Den Menschen mit seinem Verhalten, seinen Begabungen, die mit dem Verhalten eng verbunden sind; seinen beide beherrschenden Überzeugungen; seinen Leidenschaften, die seine Überzeugungen, sein Verhalten und seine geistigen Anlagen störend beeinflussen; seinen Neigungen, die auf die Leidenschaften abfärben; seinen Lebensgewohnheiten, die seine Neigungen regeln und seine Leidenschaften im Zaum halten; und die unübersehbare Schar von Personen aller Art, die ihn auf Grund all jener Gegebenheiten wirbelnd umkreisen; die Zeit mit ihren Gebräuchen, ihren Gesetzen, ihren Moden, ihrem Geist, ihren Erkenntnissen, ihren irrigen Vorstellungen, ihren Ereignissen und dem in ihr lebenden Volk, welches von all diesen Faktoren in immer anderer Weise wie weiches Wachs geknetet wird. Man kann sich vorstellen, wie gigantisch ein solches Bild sein muß. An der Stelle des einen Individuums, mit dem sich das abstrakte Drama der alten Schule zufrieden gibt, hat man hier zwanzig, vierzig, fünfzig - wer weiß wie viele! - jeglicher Art und jeglichen Gewichts. Es wird Massen von Menschen geben im Drama. Wäre es nicht schändlich, ihm eine Dauer von zwei Stunden zuzugestehen und den Rest der Vorstellung der komischen Oper oder der Farce zu überlassen? [...]

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