Zurück zur modernen Literatur

Lyrikinterpretation: Materialien


Victor Hugo: Vorrede zum Cromwell

Zurück zur Projektseite

 

Victor Hugo (1802-1885)Vorrede zum Cromwell (Préface de Cromwell, 1827/1828)

(1)

Die Herrschaft des Epos nähert sich ihrem Ende. [...] Und es war Zeit. Eine andere Ära beginnt für die Welt und für die Dichtung.

Eine allein zum Geistigen strebende Religion verdrängt das Heidentum, das dem Stoff und der Außenwelt zugewandt war; sie dringt ein in das Herz der Gesellschaft des ausgehenden Altertums, tötet sie und senkt in den Leichnam einer zerfallenden Zivilisation den Keim der modernen Zivilisation. Diese Religion umfaßt alles, denn sie ist wahr; ihr Dogma und ihr Kult halten tief zwischen sich die Ethik versiegelt. Zu den ersten Wahrheiten, die sie dem Menschen verkündet, gehört die, daß er zwei Leben zu leben hat, ein vergängliches und ein ewiges, ein irdisches und ein himmlisches. Sie zeigt ihm, daß er, wie sein Schicksal, zweifach ist, daß in ihm ein animalisches Wesen und eine Intelligenz existieren, daß er eine Seele und einen Körper hat; kurz, daß er den Schnittpunkt darstellt, den Ring, der den beiden die Schöpfung umfassenden Ketten des Seienden gemeinsam ist und so die Reihe der stofflichen Wesen, die vom Stein bis zum Menschen führt, mit der Reihe der körperlosen Wesen verbindet, die vom Menschen ausgeht und in Gott endet. [...]

Um nichts auszulassen in der kurzen Darstellung, die wir hier zu geben uns erkühnen, weisen wir darauf hin, daß zu dieser Zeit, mit dem Christentum und von diesem bewirkt, ein neues Gefühl in die Völker eindringt, das den Alten unbekannt war und sich bei den Modernen außerordentlich stark entwickelt hat; ein Gefühl, das stärker ist als Ernst und weniger ist als Trauer: die Melancholie. Und mußte nicht auch das Herz des Menschen, das bis dahin durch rein hierarchische und von Priestern eingesetzte Riten eingeschläfert war, unter dem Anhauch einer Religion, die menschlich ist, weil sie von Gott kommt, erwachen und fühlen, wie in ihm eine ungeahnte Fähigkeit aufkeimte [...] ?

Auch war die Welt in gerade jenem Augenblick einer so tiefgreifenden Umwälzung ausgeliefert, daß zwangsläufig eine solche auch im Geist des Menschen stattfinden mußte. Bis zu jener Zeit hatten sich politische Katastrophen nur selten bis in das innerste Leben der Bevölkerungen ausgewirkt. Könige stürzten, Machtansprüche erloschen, das war alles. [...] Aber als sich die christliche Lebensform entwickelte, war der alte Kontinent in Auflösung begriffen. Alles war bis zu den Wurzeln aufgerührt. Die Ereignisse, die das alte Europa zerstören und ein neues errichten sollten, überstürzten sich; die einen folgten pausenlos den anderen und stießen die Völker hierhin und dorthin, die einen zur Sonne, die anderen in die Nacht. Der Lärm auf der Erde war so groß, daß irgend etwas von diesem Getöse bis tief ins Volk dringen mußte. Und das erzeugte mehr als ein Echo, es führte zu einer Reaktion. Der Mensch zog sich angesichts dieser gewaltigen Veränderungen in sich selbst zurück; er begann, Mitleid zu fühlen mit der Menschheit und nachzudenken über die bitteren Herabwürdigungen des Lebens. Aus dieser Empfindung, die beim Heiden Cato Verzweiflung gewesen war, machte das Christentum die Melancholie. [...]

So sehen wir, wie zur selben Zeit und gleichsam Hand in Hand die Neigung zur Melancholie und zur Meditation, der Dämon der Analyse und der geistigen Auseinandersetzung auftreten. [...] Wir müssen uns davor hüten, verächtlich auf diese Epoche herabzusehen, in welcher alles zu keimen beginnt, was seither Frucht getragen hat, auf diese Zeiten, in denen - wenn man uns den vulgären, aber treffenden Ausdruck erlaubt - die geringsten unter den Schriftstellern den Dünger geschaffen haben für die Ernte, die später eingebracht wurde. Das Mittelalter ist aus dem späten Kaiserreich hervorgesprossen.

So haben wir also eine neue Religion, eine neue Gesellschaftsform; auf diesem zweifachen Fundament muß eine neue Dichtung erstehen. [...] Bis zu dieser Zeit hatte die ausschließlich epische - Dichtung der Alten, ebenso wie der Polytheismus und die antike Philosophie, sich mit der Natur nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus befaßt und aus der Kunst nahezu alles, was in der zur Nachahmung sich darbietenden Welt nicht einer bestimmten Vorstellung vom Schönen entsprach, erbarmungslos verbannt. Eine ursprünglich herrliche Vorstellung, die aber, wie es allem Systematisierten ergeht, in späterer Zeit unwahr, kleinlich und konventionell geworden war. Das Christentum führt die Dichtung zur Wahrheit. Wie das Christentum wird nun die Muse der Modernen die Dinge mit einem höher und weiter reichenden Blick erfassen. Sie spürt, daß in der Schöpfung nicht alles im menschlichen Sinne schön ist, daß es Häßliches gibt neben dem Schönen, Mißgestaltetes dicht beim Anmutigen, Groteskes hinter dem Erhabenen, Schlechtes zugleich mit dem Guten, Schatten mit dem Licht. Sie wird sich die Frage stellen, ob die enge und bedingte Vernunft des Künstlers siegen darf über die unbegrenzte, absolute Vernunft des Schöpfers; ob es dem Menschen zusteht, Gott zu korrigieren; ob die Natur durch Verstümmelung schöner wird; ob die Kunst das Recht hat, den Menschen, das Leben, die Schöpfung gleichsam in zwei Teile zu zerlegen; ob ein jedes Ding Besseres leisten wird, wenn man ihm seinen Muskel, seine Sprungfeder weggenommen hat; kurz, ob man zur Harmonie gelangt, indem man Unvollständiges hervorbringt. Und jetzt also, da der Blick sich auf Ereignisse richtet, die zugleich lächerlich und erschreckend sind, und unter dem Einfluß jener christlichen Melancholie und philosophischen Kritik, von denen wir gesprochen haben, vermag die Dichtung einen großen Schritt zu machen, einen entscheidenden Schritt, einen Schritt, der wie der Stoß eines Erdbebens das Gesicht der geistigen Welt völlig verändert. Die Dichtung macht es jetzt wie die Natur: sie gesellt - ohne jedoch die Unterschiede zu verwischen - den Schatten zum Licht, das Groteske zum Erhabenen, mit anderen Worten: den Körper zur Seele, das Animalische zum Geist. Denn die Basis der Religion ist stets auch die der Dichtung. Alles gehört zusammen.

So haben wir hier ein der Antike unbekanntes Prinzip, ein neues Modell für die Dichtung; und da eine dem Vorhandenen hinzugefügte neue Möglichkeit das Vorhandene völlig verändert, entsteht nun eine neue Form in der Kunst. Das neue Modell ist das Groteske; die neue Form die Komödie.

Man möge uns erlauben, hierzu noch weiteres zu sagen, denn wir haben soeben das wichtigste Merkmal, den grundlegenden Unterschied genannt, welche unserer Meinung nach die moderne Kunst von der der Antike, die lebende Form von der toten Form trennen oder - in weniger klaren, aber heute gebräuchlichen Worten ausgedrückt - die romantische Literatur von der klassischen.

"Ah! Endlich!" werden jetzt die Leute sagen, die nur hierauf warteten. "Jetzt haben wir euch ertappt, auf frischer Tat! Ihr wollt also das Häßliche zu einem der Vorbilder der Nachahmung machen; aus dem Grotesken ein Element der Kunst ! Aber wo bleibt da das Gefällige ..., wo der gute Geschmack ...? Wißt ihr nicht, daß die Kunst die Natur korrigieren muß? daß man sie veredeln muß? daß man aus ihr auswählen muß? Haben die Alten jemals das Häßliche und das Groteske in ihre Werke aufgenommen? haben sie jemals die Tragödie mit der Komödie vermischt? Das Vorbild der Alten, ihr Herren! Und Aristoteles ... Und Boileau ... [...] Kann man's für möglich halten?" Diese Einwände sind zweifellos gut begründet und vor allem so ungewöhnlich neu! Aber wir brauchen hier nicht darauf zu antworten. Wir errichten hier kein System, denn Gott bewahre uns vor Systemen. Wir stellen eine Tatsache fest, als Historiker, nicht als Kritiker. Ob diese Tatsache gefällt oder nicht gefällt, ist gleichgültig! Sie besteht. - So wollen wir fortfahren und sichtbar zu machen suchen daß die fruchtbare Verbindung des Grotesken mit dem Erhabenen den modernen Genius hervorgebracht hat, der so vielschichtig, so reich an Formen, so unerschöpflich im Gestalten ist und damit in starkem Gegensatz steht zur immer gleichen Einfachheit des antiken Genius; wir werden zeigen, daß man dort beginnen muß, um den bis ins Tiefste reichenden, wahren Unterschied der beiden Literaturen klarzumachen.
Es wäre allerdings nicht richtig zu sagen, daß die Komödie und das Groteske dem Altertum völlig unbekannt gewesen seien. Das wäre auch nicht möglich. Nichts wächst ohne Wurzel; die zweite Epoche hat ihren Keim immer in der ersten. Schon in der Ilias spielen Thersites und Vulkan Komödienszenen, der eine für die Menschen, der andere für die Götter. [...] Die Tritonen, Satyrn, Zyklopen sind groteske Gestalten, [...] Polyphem ist in erschreckender Weise grotesk, Silen ist ein grotesker Narr.

Doch spürt man hierbei, daß diese Kunstart noch kindlich ist. Das Epos, das zu dieser Zeit allem seine Form aufprägt, das Epos lastet schwer auf ihr und erstickt sie. Das antike Groteske ist scheu und sucht immer, sich zu verstecken. [...]

Darum bleibt die Komödie im großen epischen Ganzen der Antike fast unsichtbar. Neben den olympischen Streitwagen - was bedeutet da der Thespis-Karren? [...]

Im Denken der Modernen spielt dagegen das Groteske eine gewaltige Rolle. Man findet es überall; im einen Fall schafft es das Mißgestaltete und Erschreckende im anderen das Erheiternde und Possenhafte. Es umgibt die Religion mit zahllosen im Aberglauben wurzelnden Einfällen und die Dichtung mit zahllosen farbigen Bildern. Es sät auch, aus vollen Händen, jene Abertausende von Zwischenwesen in die Luft, ins Wasser, in die Erde, ins Feuer, die die mittelalterliche Volkssage mit so viel Leben erfüllen; und das Groteske ist es, das im Dunkeln den scheußlichen Hexenreigen tanzen läßt, das Satan die Hörner, die Bocksfüße gibt und die Fledermausflügel. Und es ist das Groteske, immer das Groteske, das einmal jene gräßlichen Gestalten, welche die herbe Kunst Dantes und Miltons vor uns erstehen läßt, in die christliche Hölle hinabstößt und diese ein anderes Mal mit den lächerlichen Wesen bevölkert, mit denen Callot, der Michelangelo des Burlesken, sich umgibt. Wenn es sich aus der Welt der Ideen in die des Realen begibt, ist es unerschöpflich im Parodieren des Menschengeschlechts. Die Phantasie des Grotesken hat die Skaramuzze, Crispini, Harlekine geschaffen, all diese Zerrbilder des Menschen, die der würdevollen Antike ganz unbekannt waren, obwohl sie dem klassischen Boden Italiens entstammen. Es gibt dem gleichen Spiel der Phantasie, einmal im Norden, einmal im Süden, seine besondere Farbe und läßt hier Sganarell um Don Juan herumhüpfen, und dort Faust von Mephisto umschleichen. [...]

Ein Buch über die Verwendung des Grotesken in den Künsten könnte, so glauben wir, viel Neues bringen. Es könnte zeigen, welche starken Wirkungen die Modernen dieser ergiebigen Vorstellungswelt verdanken, die von engstirnigen Zensoren noch in unseren Tagen leidenschaftlich verurteilt wird. Vielleicht wird unser Thema es uns im folgenden noch möglich machen, kurz auf einige Züge dieses riesigen Gemäldes hinzuweisen. Hier wollen wir vorerst nur sagen, daß, als eine neben dem Erhabenen vorhandene Möglichkeit, als Kontrastmittel, das Groteske in unseren Augen die reichste Quelle ist, die die Natur der Kunst erschließen kann. [...] Jener, immer gültigen Schönheit, die die Antike feierlich über alles ausbreitete, war eine gewisse Monotonie nicht abzusprechen; der sich stetig wiederholende gleiche Eindruck kann mit der Zeit ermüdend sein. Erhabenes, das Erhabenem folgt, kann kaum eine Kontrastwirkung hervorbringen, und man muß sich von allem einmal erholen, selbst vom Schönen. Das Groteske hingegen, so scheint es uns, ist wie ein Pausenzeichen, es fordert zum Vergleich auf, liefert einen festen Punkt, von dem aus man mit einem wieder erfrischten, neu angeregten Wahrnehmungsvermögen zum Schönen aufsteigt. Der Salamander läßt Undine anmutiger erscheinen; der Gnom erhöht die Schönheit der Sylphe.

Und es wäre auch richtig zu sagen, daß die Nähe des Mißgestalteten dem modernen Sublimen etwas gegeben hat, was dieses reiner, hoheitsvoller, kurz sublimer gemacht hat als das Schöne der Antike; und es kann nicht anders sein. Wenn die Kunst in sich selbst konsequent ist, erreicht sie in allem ihr Ziel sehr viel sicherer. Weshalb hat das homerische Elysium nichts von dem unfaßbaren Zauber, der überirdischen Heiterkeit von Miltons Paradies? Weil sich unter dem Garten Eden eine Hölle befindet, die viel grauenvoller ist als der heidnische Tartarus. [...]

Das Schöne hat nur eine Erscheinungsform, das Häßliche hat tausend. Denn das Schöne, vom Menschen her gesehen, ist nichts anderes als Form, begriffen in ihrer einfachsten Beziehung, absolutesten Symmetrie und innigsten Harmonie mit unserer eigenen Beschaffenheit. Aus diesem Grunde liefert es uns immer ein abgeschlossenes Ganzes, das aber begrenzt ist, wie wir es sind. Was wir das Häßliche nennen, ist dagegen der Einzelteil eines großen Ganzen, das wir nicht überblicken können und das nicht mit dem Menschen sondern mit der ganzen Schöpfung in Einklang steht. Deshalb zeigt es sich uns immer wieder m neuen, aber unvollständigen Erscheinungsformen.

Es ist reizvoll, dem Aufkommen und Vordringen des Grotesken in der modernen Ära nachzugehen. Es ist sogleich eine Invasion, ein Einbruch, eine Flutwelle; es ist ein Sturzbach, der seinen Damm niedergerissen hat. Es durchquert bei seinem ersten Erscheinen die im Sterben liegende lateinische Literatur, leuchtet auf in Persius, Petronius, Juvenal und beschert ihr den Goldenen Esel des Apulejus. Von da geht es ein in die Phantasie der neuen Völker, die Europa wieder aufbauen. Es brodelt auf in den Werken der Erzähler, der Chronisten, der Romanschreiber. [...]

Es hat mit seiner Wesensart besonders jene wunderbare Architektur durchtränkt, die im Mittelalter alle Künste vertritt. Es setzt der Stirn der Kathedralen sein Stigma auf, umrahmt mit den Spitzbogen der Portale seine Höllen, seine Purgatorien und läßt diese in den Kirchenfenstern aufflammen; seine Ungeheuer, seine Doggen, seine Dämonen umschlingen die Kapitelle, wandern die Friese entlang, hocken auf den Dachrändern. [...]

Es sei uns erlaubt, hier auf einige Gedanken zurückzukommen, die schon ausgesprochen worden sind, aber nochmals deutlich gemacht werden müssen. [...]

An dem Tage, an dem das Christentum zum Menschen gesagt hat: du hast eine doppelte Natur; du bestehst aus zwei Wesen, das eine ist vergänglich, das andere unsterblich, das eine ist Fleisch, das andere dem Äther verwandt, das eine ist den Begierden, Bedürfnissen, Leidenschaften unterworfen das andere fliegt dahin auf den Schwingen der göttlichen Begeisterung und des Traums, das eine neigt sich stets herab zur Erde, seiner Mutter, das andere erhebt sich ohne Unterlaß zum Himmel, seiner Heimat, empor; - an jenem Tage wurde das Drama geschaffen. Ist dieses nicht in der Tat eben diese tägliche Erfahrung des Gegensätzlichen, der in jedem Augenblick sich abspielende Kampf zwischen zwei sich widerstrebenden Prinzipien, die immer spürbar sind im Leben und die um den Menschen ringen von seiner Wiege bis zum Grab?

Die Dichtung, die ihre Geburt dem Christentum verdankt, die Dichtung unserer Zeit ist somit das Drama; das Kennzeichen des Dramas ist das Wirkliche; das Wirkliche ergibt sich aus der ganz natürlichen Verbindung zweier Seinsarten: des Erhabenen und des Grotesken, die sich im Drama begegnen, wie sie sich im Leben und in der Schöpfung begegnen. Denn die wahre, die alles umfassende Poesie ersteht aus der Harmonie der Gegensätze. Ferner - und es ist an der Zeit, es laut zu sagen, und besonders hierfür gilt, daß Ausnahmen die Regel bestätigen würden -: alles, was es in der Natur gibt, ist in der Kunst.

Wenn man diesen Standpunkt einnimmt und darangeht, von da aus unsere überkommenen kleinen Regeln zu überdenken, all die verschlungenen Wege der Gelehrsamkeit zu entwirren und all die kläglichen Probleme aufzulösen, mit denen die Kritiker in den letzten beiden Jahrhunderten eifrig die Kunst eingerüstet haben, stellt man mit Erstaunen fest, wie schnell sich die Frage des modernen Theaters klärt. Das Drama braucht nur einen Schritt vorwärts zu machen, um all die Spinngewebe zu zerreißen, mit denen die Liliputaner es in seinem Schlaf zu fesseln gedachten.

Während also kopflose Pedanten (das eine schließt das andere nicht aus) behaupten, daß die Kunst niemals das Mißgestaltete, das Häßliche, das Groteske zum Gegenstand der Nachahmung wählen darf, erwidern wir ihnen, daß Groteskes Komödie ist und daß die Komödie allem Anschein nach zum Bereich der Kunst gehört. [...]

Sollten sie nun, da sie aus diesem Bollwerk verjagt worden sind, sich hinter ihren zweiten Wall zurückziehen und nun wieder verbieten, das Groteske mit dem Erhabenen zu verbinden, das Komische mit dem Tragischen zu verschmelzen, dann macht man ihnen klar, daß, in der Dichtung der christlichen Völker, die erstere der beiden Seinsarten das Animalische im Menschen darstellt, die andere die Seele. Wenn die Zweige dieser beiden Stämme der Kunst daran gehindert werden, sich zu verflechten, wenn man sie systematisch trennt, werden sie keine anderen Früchte hervorbringen als, auf dieser Seite, abstrakte Darstellungen von Schwächen und lächerlichen Torheiten und, auf der anderen, abstrakte Darstellungen von Verbrechen, von Heldentum und Tugend. Die derart voneinander abgesonderten und sich selbst überlassenen Seinsarten entwickeln sich jeweils in ihrer eigenen Weise, abseits vom Wirklichen, das rechts und links zwischen ihnen liegenbleibt. Woraus sich ergibt, daß es, nach all diesen Abstraktionen, noch etwas darzustellen gibt: den Menschen; daß nach diesen Tragödien und diesen Komödien noch etwas zu schaffen bleibt: das Drama.

In diesem Drama, das man zwar wohl nicht ausführen, aber wenigstens sich vorstellen kann, ist alles miteinander verknüpft und läuft ab wie in der Wirklichkeit. Der Körper spielt darin seine Rolle wie auch die Seele; und die Menschen und die Ereignisse, die von diesen beiden Faktoren in Gang gebracht werden, erscheinen wechselweise komisch und erschreckend, und manchmal erschreckend und komisch zugleich. So kann der Richter sagen: "An den Galgen mit ihm! Und jetzt gehen wir essen!"; [...] So wird Sokrates, der schon den Schierlingsbecher getrunken hatte, sich mitten im Gespräch über die unsterbliche Seele und den einen Gott unterbrechen und anordnen, daß Äskulap ein Hahn geopfert werde. [...] So kann Cäsar, auf seinem Triumphwagen, Furcht vor einem Sturze zeigen. Denn in den genialen Menschen, so groß sie sein mögen, steckt immer das Tier, das ihrem Verstand einen Streich spielt. Damit reihen sie sich in die Menschheit ein, denn sie sind dramatisch. [...].

Das Groteske ist also eines der schönsten Elemente des Dramas. Es ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern es ist oft notwendig. [...] Überall schleicht es sich ein. [...] Oft ungreifbar, oft unsichtbar, ist es immer da auf der Bühne, selbst wenn es schweigt, wenn es sich versteckt. Dank seiner Gegenwart gibt es keine Monotonie. Einmal streut es Gelächter, einmal Entsetzen in die Tragödie. Die Begegnungen Romeos mit dem Apotheker, der drei Hexen mit Macbeth, der Totengräber mit Hamlet sind sein Werk. Und wie in der Szene zwischen König Lear und seinem Narren kann es manchmal, ohne einen Mißklang zu erzeugen, seine grelle Stimme inmitten der sublimsten, leidvollsten, träumerischsten Melodien der Seele hörbar machen. Dieses hat, alle übertreffend und in einer ihm eigenen Weise, die nachzuahmen ebenso sinnlos wie unmöglich wäre, Shakespeare zu tun vermocht, dieser Gott des Theaters, in dem - einer Trinität vergleichbar - sich die drei großen Genies unserer Bühne zu vereinen scheinen: Corneille, Molière, Beaumarchais.

Man sieht, wie schnell Vernunft und Geschmack die willkürliche Unterscheidung der Gattungen zusammenbrechen lassen. Ebensoleicht könnte man die angeblich bestehende Regel der beiden Einheiten zunichte machen. Wir sagen zwei, nicht drei Einheiten, weil die Einheit der Handlung oder der Geschlossenheit, die einzig wahre und begründete, seit langem als unumstößlich anerkannt ist.

Bedeutende Männer unserer Zeit, Ausländer wie Franzosen, haben schon, in der Praxis wie in theoretischen Schriften, dieses Grundgesetz der pseudo-aristotelischen Lehre angegriffen. Es bedurfte im übrigen keines langen Kampfes. Schon der erste Stoß genügte, so wurmstichig war dieser Balken des alten Gemäuers der Schulweisheit!

Verwunderlich ist nur, daß die Praktiker ihre beiden Einheitsregeln mit der Wahrscheinlichkeit rechtfertigen wollen, während es gerade das Wirkliche ist, das sie zur Strecke bringt. Was könnte unwahrscheinlicher und aller Vernunft mehr zuwider sein als jene Halle, jener Säulengang, jenes Vorzimmer, jener allen zugängliche Ort also, an dem, in entgegenkommendster Weise, unsere Tragödien sich abzuspielen pflegen; der Ort, wohin, man weiß nicht wieso, abwechselnd die Verschwörer kommen, um Reden gegen den Tyrannen zu halten, und der Tyrann, um gegen die Verschwörer zu wettern. [...]

Wo hat es je eine solche Halle, einen solchen Vorhof gegeben? [...] Daraus hat sich ergeben, daß alles, was zu persönlich, zu vertraulich, zu sehr an einen besonderen Raum gebunden ist, um sich im Vorzimmer oder auf der Straße abzuspielen, und das heißt das ganze Drama, sich hinter den Kulissen abspielt. Wir sehen auf der Bühne gleichsam nur die Ellenbogen der Handlung. ihre Hände sind an einem anderen Ort. Statt bewegter Szenen bringt man uns Berichte; statt Tableaus Beschreibungen. Gravitätische Personen, die wie der antike Chor zwischen uns und dem Drama stehen, erzählen uns, was im Tempel, im Palast, auf dem Marktplatz vor sich geht, und das in einer Weise, daß wir ihnen gar oft zurufen möchten: "Wahrhaftig! aber so nehmt uns doch dorthin mit! das muß sehr unterhaltsam, sehr schön zu sehen sein!", worauf sie gewiß antworten würden: "Es ist wohl möglich, daß euch das unterhalten oder interessieren würde, aber darum geht es nicht: wir sind dazu da, die Würde der französischen Melpomene zu schützen." - Da haben wir es!

"Aber", wird man sagen, "diese Regel, die ihr ablehnt, stammt vom griechischen Theater." - Welche Ähnlichkeit besteht denn zwischen dem Theater und dem Drama der Griechen und unserem Drama und unserem Theater? Im übrigen haben wir schon darauf hingewiesen daß die ungeheure Breite der antiken Bühne es möglich machte, eine ganze Ortschaft aufzubauen, so daß der Dichter, nach seinem Belieben, die Handlung von einer Stelle zur anderen versetzen konnte, was wohl mehr oder weniger den Dekorationswechseln gleichkommt. [...]

Man beginnt heute zu erkennen, daß die genau wiedergegebene Örtlichkeit eines der wichtigsten Elemente des Wirklichen ist. Es sind nicht allein die sprechenden oder handelnden Personen, die im Geist des Zuschauers ein getreues Bild der Ereignisse entstehen lassen. Der Ort, an dem ein grauenvolles Ereignis stattgefunden hat, wird zu einem schrecklichen und davon untrennbaren Zeugen, zu einer Art von stummem Mitspieler, dessen Abwesenheit die großartigste historische Szene unvollständig erscheinen lassen muß. Kann der Dichter es wagen, Rizzio an einem anderen Orte als im Schlafzimmer Maria Stuarts zu ermorden? [...] Karl I. und Ludwig XVI. an einer anderen Stelle als auf jenen schaudererregenden Plätzen zu enthaupten, von denen aus man Whitehall und die Tuilerien sehen kann, als sei ihr Schafott das Pendant ihres Palastes?

Die Einheit der Zeit kann sich nicht besser behaupten als die des Ortes. Eine von der Vierundzwanzig-Stunden-Frist begrenzte Handlung kann ebensowenig ernst genommen werden wie die in die Vorhalle gezwungene. Jede Handlung hat ihre eigene Dauer, so wie sie ihren eigenen Ort hat. Allen Ereignissen die gleiche Zeitration zuerteilen! Alles mit dem gleichen Maße messen! Einen Schuhmacher, der allen Füßen den gleichen Schuh anpassen wollte, würde man auslachen. Die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes kreuzweise aufeinanderlegen wie die Stäbe eines Käfigs und dahinter - pedantisch -, im Namen des Aristoteles, all diese Taten, all diese Völker, all diese Gestalten unterbringen, welche die Vorsehung in der Wirklichkeit so zahlreich aufmarschieren läßt, das heißt Menschen und Dinge verstümmeln, heißt, die Geschichte alberne Gesichter schneiden lassen. Besser gesagt: all das muß bei solchem Vorgehen sterben. Und so ergibt sich aus dieser um eines Dogmas willen vorgenommenen Verstümmelung das übliche Resultat: was in der Chronik lebendig war, ist in der Tragödie tot. Das ist der Grund, weshalb der Käfig der Einheiten so oft nur ein Skelett enthält.

Und weiter: wenn vierundzwanzig Stunden in zwei Stunden enthalten sein können, ist es klar, daß vier Stunden achtundvierzig aufnehmen können. Die Einheit Shakespeares ist also nicht die Einheit Corneilles. Ein Jammer! Aber gerade dieses sind die armseligen Schikanen, die Mittelmäßigkeit, Neid und Rückständigkeit seit zwei Jahrhunderten dem Talent bereiten! Auf diese Weise hat man dem Höhenflug unserer größten Dichter eine Grenze gesetzt. Mit der Schere der Einheiten wurden ihnen die Flügel beschnitten. [...]

Wir wissen, was man dagegen einwenden könnte: "Zu häufige Dekorationswechsel führen oft dazu, den Zuschauer zu verwirren und zu ermüden und seiner Aufmerksamkeit die Kraft zu nehmen; es besteht auch die Möglichkeit, daß mehrfache Verlegung der Handlung von einem Ort zum anderen, aus einer Zeit in eine andere Ergänzungen der Exposition nötig machen, die ihn langweilen; weiter ist zu befürchten, daß in der Mitte einer Handlung Lücken entstehen, die nicht nur die enge Verkettung der Dramenteile verhindern, sondern auch den Zuschauer beunruhigen, weil er sich nicht klar darüber ist, was die leer bleibenden Stellen enthalten können." Aber das sind eben Schwierigkeiten, die zur Kunst gehören. Es sind jene Hindernisse, die uns die verschiedenen Stoffe in der ihnen jeweils eigentümlichen Weise in den Weg stellen und für die es keine ein für allemal geltende Entscheidung gibt. Es ist die Aufgabe des Genies, sie zu überwinden, nicht die der Poetiken, ihnen auszuweichen.

Zurück nach oben 

 

Hilfe zum Download zurückweiter e - Mail